«Wir müssen den Zerfall und Rückbau nicht mehr benötigter Bauwerke einplanen»

Jeder Marketing- und Verkaufsfachmann weiss, dass sich Konsumenten Gratisangebote und besondere Schnäppchen nur ungerne entgehen lassen. In dieser Situation kann das Lesen der Produktedeklaration dann aber gerne mal vergessen gehen. Gemäss Pressemeldungen sollen in der kleinen Tessiner Gemeinde Gambarogno idyllische Rustici mit Blick auf den Lago Maggiore für nur einen Franken zum Verkauf angeboten werden. Der Kauf soll mit der Auflage verbunden sein, die Häuser in angemessener Zeit zu renovieren. Im Herbst entscheidet die Gemeinde, ob sie dem Antrag der eingesetzten Kommission folgen wird, einige Hütten im Weiler Monti Sciaga unter bestimmten Bedingungen an Privatpersonen abzutreten. René Meier, Bereichsleiter Architektur und Planung, hat das Schnäppchen unter die Lupe genommen.

 

 

Wie viel wird die Renovation eines dieser Häuser ungefähr kosten?

Das ist von unzähligen Faktoren abhängig, zunächst aber einmal davon, welche Umbauten und Nutzungen überhaupt gesetzlich zulässig sind. Die blumige Umschreibung in den Medien (idyllische Rustici mit Blick auf den Lago Maggiore) impliziert beim Leser wohl eine Nutzung als Ferienhaus, was aber aufgrund der Gesetzeslage und der aktuellen Rechtsprechung nicht bewilligungsfähig sein dürfte. In der Botschaft an den Gemeinderat ist der Antrag formuliert im Rahmen eines Wiederaufbauprojekts zu überprüfen unter welchen Bedingungen neun Hütten an Privatpersonen verkauft werden können, die an einer Umstrukturierung interessiert sind. Es wird die «Vision» beschrieben den Bau einer offenen, unbeaufsichtigten Almhütte vorzusehen, welche die Renovierung einiger bestehender Gebäude und die Verbesserung der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung von Weideflächen fördert. Dabei geht es vor allem um die Aufwertung und Wiederbelebung des kulturellen und architektonischen Erbes des Örtchens und die Wiederherstellung des traditionellen Gesamtbildes des Weilers. Alle Gebäude liegen in der Landwirtschaftszone, also ausserhalb der Bauzone. Das Areal ist nur zu Fuss erreichbar und nicht vollständig erschlossen. Eine Trinkwasserquelle ist im Weiler in Form eines Brunnes vorhanden, Abwasser und Strom offenbar nicht. Die einzelnen Gebäude bestehen teilweise nur noch aus den Grundmauern, teilweise fehlt das Dach. Die Kosten für eine Sanierung sind auf dieser Basis weder für eine landwirtschaftliche noch für eine touristische noch für eine (Erst-) Wohnnutzung zu beziffern.

 

Wenn die Baukommission den Vorschlag nun ablehnt, gibt es in deinen Augen noch andere Möglichkeiten das Dörfchen vor dem Zerfall zu retten?

Wie in der Botschaft auch erwähnt wird, kann der Kanton basierend auf Art. 39 der Raumplanungsverordnung die Änderung der Nutzung bestehender, als landschaftsprägend geschützter Bauten als standortgebunden bewilligen, wenn Landschaft und Bauten als Einheit schützenswert sind und im Rahmen der Nutzungsplanung unter Schutz gestellt wurden sowie dauernde Erhaltung der Bauten nur durch eine Umnutzung sichergestellt werden kann. Der Gemeinde schwebt ein Projekt vor, welches mit privater Beteiligung das kulturelle und architektonische Erbe des Örtchens wiederbelebt sowie gleichzeitig die Rahmenbedingungen für die landwirtschaftliche Bewirtschaftung von Weideflächen verbessert und die vorhandenen touristischen Möglichkeiten nutzt. Offenbar bestehen entsprechende Pläne seit den 70er-Jahren. Es sei geplant, dass aus einer kleinen Gebäudegruppe, die sich in der Nähe des Brunnens an der Kreuzung der Wanderwege befindet, auf Kosten der Gemeinde eine Berghütte entstehen soll, wo sich Wanderer und Mountainbiker auf dem Weg zum Monte Tamaro und Monte Lema verpflegen können. Ein solches Projekt würde eine private Nutzung der Rustici im Weiler natürlich attraktiver machen. Natürlich würde auch die diskutierte Seilbahn von Indemini die Erschliessung des Weilers verbessern – die Finanzierung und Verträglichkeit mit dem kulturellen Erbe sind aber mehr als fraglich. Im Sinne einer korrekten Information sollte von der Gemeinde so schnell wie möglich kommuniziert werden, dass aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen eine Zweitwohnungsnutzung ausgeschlossen werden muss. Die Nachricht «Ein Haus mit Seeblick im Tessin für einen Schweizer Franken» hat sich wie ein Lauffeuer in ganz Europa ausgebreitet, die Gemeindekanzlei wird wohl mit Anfragen zum Kauf von Ferienhäusern überschüttet.

 

Könnte die Idee der günstigen Erwerbbarkeit auch für die vom Zerfall bedrohten Heuställe in Graubünden eine Rettung sein?

Nein, es fehlt nicht an Interessenten. Es geht um den Interessenkonflikt – Erhalt von kulturellem Erbe und Zersiedelung der Landschaft durch die temporäre Wohnnutzung zu Ferienzwecken. Laut dem Zweitwohnungsgesetz widerspricht die Umnutzung von Ökonomiebauten zu Ferienwohnungen in einem kleinen, nicht erschlossenen und fernab der nächsten Siedlung liegenden Gebiet wichtigen Zielen und Grundsätzen des Raumplanungsrechts, namentlich dem Trennungsgrundsatz von Bau- und Nichtbauzonen, dem Grundsatz der Konzentration der Siedlungstätigkeit in Bauzonen und der Begrenzung des Zweitwohnungsbaus (siehe Bundesgerichtsurteil C1_62/2018). Wir müssen den Zerfall von Baustruktur und den dadurch entstehenden Verlust kulturellen Erbes akzeptieren, wenn keine passenden Nutzer oder Mittel für den Erhalt bereit gestellt werden – das gilt für zerfallende Ställe genauso wie für ganze Weiler oder gar Dörfer. Im besten Fall findet sich eine passende Nutzung, die mit der geltenden Gesetzgebung im Einklang steht. Die wichtigsten kulturellen Güter sollten mit Unterstützung der öffentlichen Hand erhalten werden und eine sonst vielleicht unwirtschaftliche Nutzung ermöglichen. Bauobjekte ohne Nutzer und ohne übergeordnetes Interesse am Erhalt des kulturellen Erbes sind langfristig dem Zerfall überlassen. Schaut man sich unsere Dörfer in Graubünden an, wird man erkennen, dass die alten Heuställe und «Futterhäuschen» diesbezüglich nicht unser grösstes Problem darstellen. Der Anteil der ungenutzten und zerfallenen Häuser in den Dorfkernzonen wird dort zum Teil immer grösser. Eigenartigerweise nehmen wir diesen Zerfall vor unserer Nase offenbar weniger zur Kenntnis als einige zusammenbrechende Heuställe.

 

Sind die Häuser in den Dorfkernen nicht viel attraktiver? Warum sind diese vom Zerfall bedroht?

Im Rahmen der Urbanisierung scheint die Flucht aus den entlegenen Dörfern ein nicht aufzuhaltendes Phänomen zu sein, das nicht nur in der Schweiz beobachtet werden kann. In Italien und Spanien soll es zum Beispiel mehrere Tausende verlassene Dörfer geben. Gebäude, die seit vielen Jahrzehnten nicht mehr genutzt werden, sind für die Eigentümer in erster Linie eine Belastung und müssen in Dorfkernen – wenn sich keine neuen Nutzer mehr finden lassen – früher oder später aus Sicherheitsgründen abgerissen werden. Sind das in einer abgelegenen Ortschaft zum Beispiel 20 Prozent der Gebäude, verändert sich dadurch das Dorfbild fundamental. Es ist die Aufgabe der Gemeinden diesem Prozess so weit möglich entgegenzuwirken, aber auch vor unveränderlichen Rahmenbedingungen nicht die Augen zu verschliessen und den Vorgang zusammen mit den Eigentümern möglichst vorausschauend zu erkennen und für die Gemeinde oder Region möglichst positiv zu gestalten. Die angestrebte Verdichtung in den Städten führt auf dem Lande also zu einer gegenteiligen Bewegung. Wird das eine unter sanftem Druck des Gesetzgebers aktiv gelenkt, wird das andere unter Wahrung der Eigentumsrechte eher dem Zufall überlassen.

 

 

Fanzun AG

Architekten Ingenieure Berater: Als Generalplanerin mit Standorten in Chur, Samedan, Scuol, Zürich, Bern und St. Gallen verfügt die Fanzun AG über mehr als 50 Jahre Erfahrung im Bauwesen. Das Portfolio des Unternehmens besteht aus anspruchsvollen Projekten in den Bereichen Tourismus, Gewerbe, Infrastruktur- und Wohnungsbau. Dass sich darunter auch einige preisgekrönte Bauten finden, liegt an der ganzheitlichen Herangehensweise von Fanzun. Über 80 Generalisten und Spezialisten vereinen ihr Wissen und bieten die gesamte Palette an Bau- und Immobiliendienstleistungen auf hohen Niveau an – von der strategischen Planung und Beratung über die Gestaltung und die Energiekonzeption bis hin zum Baumanagement.

 

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